VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31.01.2013, Az. 1 S 1817/12: Rechtswidrikeit einer polizeilichen Dauer-Observation

VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31.01.2013, Az. 1 S 1817/12: Rechtswidrigkeit einer polizeilichen Dauer-Observation

  1. Unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 08.11.2012 – 1 BvR 22/12, kann eine Gefahr, die von einem ehemaligen Strafgefangenen bzw.
    Sicherungsverwahrten ausgehen soll, nur mit Hilfe eines Gutachtens belegt werden, das aktuell ist und die Umstände seit der Entlassung berücksichtigt.
  2. Für eine Übergangszeit und für eine Entscheidung im einstweiligen Rechtschutz kann eine Observation auf die bislang vorhandenen Ermächtigungsgrundlagen § 20 III PolG oder §§ 1, 3 PolG gestützt werden.
  3. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichert jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Da eine Dauerüberwachung einen
    schwerwiegenden Eingriff in dieses Grundrechte darstellt, bedarf es nach Ablauf einer Übergangsfrist voraussichtlich einer spezialgesetzlichen Regelung für eine solche Observation. Schafft der Gesetzgeber eine solche Regelung nicht, nimmt er in Kauf, dass die Gerichte derartige Überwachungen in Zukunft grundsätzlich verbieten.
  4. Es spricht einiges dafür, dass eine Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung
    ehemals Sicherungsverwahrter durch die Polizei auf der Grundlage des Polizeigesetzes Baden-Württembergs ggf. nach einer Übergangszeit voraussichtlich einer speziellen Ermächtigungsgrundlage bedarf.
  5. Die Risikobewertung der GZS (Gemeinsamen Zentralstelle beim Landeskriminalamt
    Baden-Württemberg) nach dem Sicherheitsprogramm KURS (Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern) stellen auch bei der Mitwirkung eines Psychologen keine ausreichenden kriminalprognostischen psychiatrischen Gutachten dar, weil ihnen bereits keine eigenständige Exploration des Antragstellers zu Grunde liegt.
  6. Das Leugnen, die Anlasstat tatsächlich begangen zu haben, ist für sich genommen nicht geeignet, die konkrete Gefahr eines Rückfalls zu belegen.
  7. Zumindest in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens durch den Senat nicht angezeigt, wenn zum Zeitpunkt der Anordnung der angegriffenen Maßnahme eine konkrete Gefahr für Leben, Gesundheit und Freiheit einer Person bzw. zur Vorbeugung der Bekämpfung von Verbrechen nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann und auch das Verhalten des Überwachten seit der Entlassung keine derartigen Hinweise liefert.