OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23.03.2010, Az. 1 AK 25/10 (6 Ausl A 50/10): Anforderungen an einen Europäischen Haftbefehl

23OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23.03.2010, Az. 1 AK 25/10 (6 Ausl A 50/10)

Leitsätze:

  1. Das Vorliegen eines Europäischen Haftbefehles entbindet ein deutsches Gericht nicht von der Prüfung, ob dieser auch den Anforderungen der StPO an einen Haftbefehl genügt.
  2. Das deutsche Gericht muss von Amts wegen prüfen, ob die Taten, die dem Beschuldigten, dessen Auslieferung beantragt wird, vorgeworfen werden, nach deutschem Recht bereits verjährt sind.
  3. Ist der gegen den Beschuldigten erhobene Vorwurf so ungenau dargestellt, dass ihm eine fundierte Verteidigung hiergegen nicht möglich ist, darf er deswegen nicht an einen anderen Staat ausgeliefert werden.
  4. Auch nachdem Deutsche nunmehr grundsätzlich an ausländische Staaten ausgeliefert werden dürfen, trifft das deutsche Gericht, das über diese Auslieferung zu entscheiden hat, eine Fürsorgepflicht aus § 80 IRG

Beschluss:

Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe auf Erlass eines Auslieferungshaftbefehls wird
zurückgewiesen

Gründe:

Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 19. März 2010 auf Erlass eines Auslieferungshaftbefehls konnte nicht entsprochen werden, da die formellen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.

Gegen den sich derzeit in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt O befindlichen Verfolgten besteht ein Europäischer Haftbefehl der Staatsanwaltschaft des Arrondissements in G (Niederlande) vom 17.03.2010, welchem zu entnehmen ist, dass gegen den Verfolgten ein nationaler Haftbefehl der Staatsanwaltschaft D vom 12.03.2007 unter dem mit einer Höchststrafe von vier Jahren bedrohten
Vorwurf des Betruges nach Artikel 326 des niederländischen Strafgesetzbuches, dem mit einer Höchststrafe sechs bzw. sieben Jahren bedrohten Vorwurf der Urkundenfälschung nach Artikel 225/226 des niederländischen Strafgesetzbuches und dem mit einer Höchststrafe von vier Jahren bedrohten Vorwurf des Vorhandenseins einer Schusswaffe nach Artikel 26 i.V.m. Art. 55 des niederländischen Strafgesetzbuches besteht. Die dem Verfolgten zur Last gelegten Taten werden im Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft des Arrondissements in G vom17.03.2010 wie folgt
umschrieben:

  1. Betrug
    Der Betrug bestand daraus, daß es dem Beschuldigten zu seinem persönlichen Vorteil durch das Annehmen falscher Namen und/oder durch ein Lügengewebe gelang, das Vertrauen seiner Opfer zu erlangen, wodurch diese zur Herausgabe von Geld bewogen wurden. Die Tatsachen wurden während des Zeitraums ab dem Jahre 1997 und bis zu dem 10. April 2007 in den Niederlanden begangen.
  2. Urkundenfälschung
    Die Urkundenfälschung bestand daraus, daß es dem Beschuldigten durch das Bedienen von falschen oder aber gefälschten Ausweisdokumenten gelang, das Vertrauen seiner Opfer zu erlangen, wodurch diese zur Herausgabe von Geld bewogen wurden. Die Tatsachen wurden während des Zeitraums ab dem Jahre 1997 bis zum 10. April 2007 in den Niederlanden begangen.
  3. Das Vorhandenhaben einer Schußwaffe
    Das während des Zeitraums ab dem Jahre 1997 bis zum 10. April 2007 in den Niederlanden Vorhandenhaben einer Schusswaffe, welche äußerlich einem anderen Gegenstand gleicht (Schießkugelschreiber in der Form eines Schlüsselanhängers) gemäß der Kategorie II des niederländischen Waffenschutzgesetzes. Vorgenannter Schießkugelschreiber wurde in den Sachen des Beschuldigten vorgefunden.

Ergänzend hierzu werden die Tatumstände in der Ausschreibung des Verfolgten im Schengener Informationssystem (SIS) wie folgt bezeichnet:

  1. . Der Gesuchte verwendete falsche Namen, Identitäten und Betrügerei, um das Vertrauen der Opfer zu gewinnen und brachte sie dazu, hohe Geldbeträge zu geben. Er sagte einer Frau, ihr Bruder liege im Koma im Krankenhaus und er benötige 60.000-Euro, um ihn am Leben zu halten. All das war gelogen.
  2. . Im genannten Zeitraum besaß die Person einen Kugelschreiber in Form eines
    Schlüsselanhängers, mit dem er Schüsse abfeuern konnte.

Danach liegen die formellen Voraussetzungen zum Erlass eines Auslieferungshaftbefehls nach §§ 83a Abs.1 Nr. 5, 15 IRG nicht vor. Danach muss ein Europäischer Haftbefehl eine zureichende Beschreibung der Umstände enthalten, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Tatbeteiligung der gesuchten Person.

Besondere Anforderungen an die Konkretisierung des Tatvorwurfs bestehen dann, wenn sich das Verfahren gegen einen deutschen Staatsangehörigen richtet, weil insoweit auch die besonderen Zulässigkeitserfordernisse des § 80 IRG zu berücksichtigen sind (Senat, Beschluss vom 06.07.2009, 1 AK 39/08) und sich auch Fragen der Strafverfolgungsverjährung nach § 9 IRG stellen können.
Diesen Anforderungen genügt der Europäische Haftbefehl der Staatsanwaltschaft des
Arrondissements in G vom 17.03.2010 auch unter ergänzender Berücksichtigung der Ausschreibung des Verfolgten im Schengener Informationssystem (SlS) nicht. Dieser enthält weder eine Angabe der dem Verfolgten vorgeworfenen Taten nach deren Anzahl, den konkreten Tatzeitpunkt und den Geschädigten, noch eine hinreichend nachvollziehbare Darstellung der Tatumstände, sondern begnügt sich bezüglich der Tatvorwürfe Nr. 1 und Nr. 2 mit der Darlegung, dem Verfolgten sei es im Zeitraum von 1997 bis zum 10.04.2007 in den Niederlanden gelungen, durch Annehmen falscher
Namen und Benutzung gefälschter Ausweisdokumente das Vertrauen seiner Opfer zu erlangen und diese zur Herausgabe von Geld zu bewegen: Aufgrund der unzureichenden Beschreibung der einzelnen Tathandlungen gerade auch im Hinblick auf die in Betracht kommenden Tatzeitpunkte kann der Senat auch nicht die Frage einer ggf. im Inland eingetretenen und sich auf die Zulässigkeit der Auslieferung auch bezüglich der Tat Nr. 3 auswirkenden Strafverfolgungsverjährung nach §9 Nr. 2 IRG prüfen.

Da die insoweit zu klärenden Fragen dem Erlass eines Auslieferungshaftbefehls insgesamt entgegenstehen, kann eine Präzisierung der Tatvorwürfe auch nicht dem Zulässigkeitsverfahren überlassen bleiben (vgl. hierzu Senat [31.03.2008, 1 AK 12/08] StV 2008, 429 f.). Angesichts der völlig unzureichenden Sachverhaltsbeschreibung scheidet auch der Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls nach §16 IRG aus.

Anmerkungen:

  1. Zu Recht hat das OLG Karlsruhe entschieden, dass der Erlass eines nationalen, hier eines niederländischen Haftbefehles nicht ausreicht, um eine Auslieferung zu veranlassen. Wie bei einem inländischen Haftbefehl auch muss der erhobene Vorwurf so konkret beschrieben sein, dass der Beschuldigte die Möglichkeit hat, sich hiergegen zu wehren. Im Regelfall setzt dies die Angaben zu Tatort, Begehungsweise (Einzelheiten des Tatablaufs) und der Person des Geschädigten voraus. Im vorliegenden Fall war noch nicht einmal klar, wie viele Taten der Mandant begangen haben sollte.
  2. Entscheidend stellt das Oberlandesgericht auch auf die fehlende Angabe zum Tatzeitpunkt ab: Das Gericht muss von Amts wegen prüfen, ob die vorgeworfene Tat bereits verjährt sein könnte. Diese Berechnung ist aber nur möglich, wenn klar ist, wieviel Zeit seither vergangen ist. Auch diese Angabe fehlte hier.
  3. Vor der Einführung des Europäischen Haftbefehls durfte ein Deutscher nicht an das
    Ausland ausgeliefert werden. Dies hat sich zwar 2004 geändert, dennoch haben deutsche Gerichte, worauf das OLG Karlsruhe zu Recht hinweist, weiterhin eine in § 80 IRG (Gesetzüber internationale Rechtshilfe in Strafsachen) festgeschriebene  besondere Fürsorgepflicht gegenüber deutschen Staatsangehörigen, insbesondere, was die Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze in Gerichtsverfahren gegen Deutsche im Ausland angeht: Denn wenn die Auslieferung einmal stattgefunden hat, ist der die Auslieferung beantragende Staat Herr des weiteren Verfahrens, eine weitere Einflussnahme Deutschlands zugunsten seines Staatsangehörigen somit nur noch sehr eingeschränkt möglich.
  4. Unter Berücksichtigung all dieser Punkte durfte die Auslieferung meines Mandanten nicht erfolgen, der Erlass des Auslieferungshaftbefehles war daher abzulehnen.
  5. Bei derart eklatanten Mängeln besteht nach der zutreffenden Ansicht des OLG Karlsruhe auch kein Anlass, einen vorläufigen Haftbefehl zu erlassen, der eine Entlassung des Mandanten aus der deutschen Strafhaft nach deren Erledigung verhindert und den Niederlanden die Möglichkeit gegeben hätte, einen neuen, dieses Mal möglicherweise formell rechtmäßigen Europäischen Haftbefehl zu beantragen.
  6. Auf grammatikalische und orthographische Fehler in den aus dem Niederländischen
    übersetzten Dokumenten kam es nicht an, weshalb ich einige dieser Fehler korrigiert habe, ohne dies gesondert zu kennzeichnen.