Den Sünder lieben …

Kreuzundmehr-Gottesdienst am 14.01.2018 in St. Stefan, Achern-Oberachern

 

Den Sünder lieben, die Sünde verurteilen –
Aus dem beruflichen Alltag eines Rechtsanwaltes

 

Lesung:           1 Sam 3, 3b – 10, 19

Evangelium:    Lk 24, 13 – 35

 

Den Sünder lieben …

Manch einer meiner neuen Mandanten, insbesondere in den Strafrechtsfällen, in denen es also um den Vorwurf einer Straftat und eine mögliche Haftstrafe geht, hat nicht den Eindruck, dass ich nach diesem Motto handeln würde. Viele erzählen mir zunächst einmal, was sich da für eine Geschichte abgespielt hat. Und wenn sie mit ihrer Version des Geschehens fertig sind, schließen sie fast immer mit der Frage „Glauben Sie mir?“ Auch wenn das manchmal gar keine Frage mehr ist, sondern eher eine Aufforderung, ernte ich große Blicke, wenn ich immer dieselbe Antwort gebe: „Nein!“ Soviel also zum Thema „Den Sünder lieben“ …

Aber natürlich geht meine Antwort noch weiter: „Das bedeutet aber nicht, dass ich Ihnen nicht glaube, sondern lediglich, dass ich nicht beurteilen muss (und auch nicht soll!), ob Sie die Wahrheit sagen oder nicht. Meine Aufgabe als Ihr Anwalt ist es, Ihnen zu sagen, ob der Richter Ihnen voraussichtlich glauben wird oder nicht.“ Meine Aufgabe als Rechtsanwalt ist es also zunächst einmal – in jedem Rechtsgebiet, egal ob Strafrecht, Familienrecht oder Zivilrecht – dem Mandanten zu erklären, was der Richter von ihm hören will und was nicht, was er als Beweis ansieht und was nicht. Erst Anfang der Woche habe ich einen Mandanten in einem Sorgerechtsverfahren beraten, an dem ich bislang nicht beteiligt bin. Ich weiß daher nicht genau, um was es geht, aber aufgrund des gerichtlichen Schreibens, das mir der Mandant vorgelegt hat, konnte ich ihm sagen, welche Unterlagen das Gericht von ihm haben will, und welche überflüssig sind: In der Absicht, seine Verpflichtungen möglichst gut zu erfüllen, wollte der Mandant ursprünglich gefühlt eine Tonne Papier einreichen. Deren Lektüre konnte ich dem Richter ersparen.

Meine Rolle ist also vergleichbar mit der von Eli: Samuel wird von Gott angesprochen, weiß aber nicht, wie und wem gegenüber er reagieren soll. Also muss ihm Eli das Geschehene und den weiteren Verfahrensablauf einschließlich der Prozessregeln erklären, obwohl auch er nicht weiß, was genau Gott von Samuel will. Auch die Situation, daß Eli erst nach mehreren Anläufen versteht, wer Samuel da angesprochen hat, kommt mir bekannt vor: Insbesondere dann, wenn Mandanten keine schriftlichen Unterlagen mitbringen, sondern nur mündlich berichten, was sie bisher erlebt und wahrgenommen haben, ist es manchmal sehr schwierig herauszufinden, um welche rechtliche Frage es genau geht und vor welchem Gericht ein Verfahren überhaupt stattfindet.

Manche Verhaltensregeln sind den Mandanten bereits bekannt, aber sicher sein darf ich mir diesbezüglich leider nie, denn nicht alles lässt sich später noch korrigieren: Im Regelfall reagieren Mandanten darauf, wenn ich sie durch Gesten auffordere, aufstehen, wenn der Richter den Saal betritt, aber wenn der Angeklagte ans Handy geht und dem Anrufer mitteilt, er könne nicht lange reden, da er gerade im Gerichtssaal sei, kommt mein Hinweis, das Handy auszumachen, eindeutig zu spät.

Wenn aber – nach entsprechender Aufklärung – die Angesprochenen wissen, wie sie sich zu verhalten haben, dann funktioniert auch die Kommunikation zwischen dem „Weltenrichter“ und dem „armen Sünder“.

Apropos „armer Sünder“: Was mich in diesem Zusammenhang sehr beruhigt ist der Umstand, dass Eli einen ganz brauchbaren Übersetzer abgibt, obwohl er selbst als nicht sonderlich positiver Mensch geschildert wird: Bereits in der ersten Vision, die wir in der eben gehörten Lesung ausgelassen haben, verkündet Gott sein Urteil über Eli und dessen Söhne. Man muss als „Gerichts-Dolmetscher“ also nicht dauernd die „Sünde verurteilen“, um seine Aufgabe als Anwalt erfüllen zu können. Trotzdem hat es mich natürlich gefreut, als mich ein Richter nach der letzten Verhandlung nicht verurteilt hat, sondern sich für meine Tätigkeit bedankte: Ich hatte versucht, den Mandanten in der Verhandlung so zu beruhigen, dass Vergleichsverhandlungen möglich wurden – allerdings bin ich in diesem Fall gescheitert.

Muss ich also zumindest beruflich „die Sünde verurteilen“? In dieser Woche hatte ich eine (andere) Verhandlung, in der es um die Frage ging, ob meine Mandantin die gesuchte Täterin war, oder ob auf dem Beweisphoto eine andere Person zu sehen war. Als ich bei einem Belastungszeugen Zweifel an seiner selbstsicheren Identifizierung wecken wollte und ihm mitteilte, dass ich meine Mandantin nicht erkennen könne, brachte ihn das nicht aus der Ruhe: „Das dürfen Sie ja als Verteidiger auch nicht!“ – Falsch! Ich muss nicht die Sünde lieben, sondern darf sie genauso verurteilen wie jeder andere auch. Ich muss allerdings auch dafür sorgen, dass der liebevolle Blick auf den angeklagten Menschen nicht vergessen wird – wenn es sich tatsächlich um den richtigen Täter handelt. In dem konkreten Fall konnte auch die Richterin meine Mandantin nicht erkennen, und hat sie deshalb freigesprochen.

Was bedeutet es, den liebevollen Blick auf den Sünder zu bewahren? Eine Antwort hierauf gibt uns das Emmaus-Evangelium, das wir eigentlich aus der Osterzeit kennen, das aber heute extra aus diesem Grund gelesen wurde: Jesus ist auferstanden und den Frauen erschienen. Über diese hat er seinen Jüngern ausrichten lassen, sie sollten ihm vorausgehen nach Galiläa. Und was machen Kleopas und sein Begleiter? Sie verlassen Jerusalem, und gehen nach Emmaus, also nicht nach Norden, wie es ihnen aufgetragen worden ist, sondern nach Westen! Eigentlich könnte man jetzt erwarten, dass Jesus sich ihnen in den Weg stellt, sie zumindest im übertragenen Sinne am Ohr zieht und sie auffordert, die Richtung zu ändern. Doch was macht Jesus tatsächlich? Er geht mit ihnen in die falsche Richtung! Er erklärt ihnen zwar, was Sache ist, aber wir hören keine einzige Anweisung oder Vorgabe von ihm, er geht einfach mit. Für mich ist diese Bibelstelle so wichtig geworden, weil ich im Laufe meiner Berufsjahre erfahren habe, wie überzeugend diese Strategie ist, und – überraschenderweise – wie praktikabel: Gerade im Strafrecht habe ich im Regelfall nicht mit ausgekochten Kriminellen zu tun, die das Begehen von Straftaten als den bequemsten und effektivsten Weg zum Broterwerb ansehen, nein: Im Regelfall verteidige ich Angeklagte, die wissen, dass sie etwas falsch gemacht haben, für das sie büßen müssen. Das war sogar den Jugendlichen klar, die sich in der Nacht noch sehr cool vorgekommen waren, in der sie sich ein Feuerwehrauto „ausgeliehen“ haben und damit unter lautem Tatü-Tata ihre Bestellung bei McDrive aufgegeben haben.

In diesem Fall nicht, aber ansonsten ist Straffälligkeit sehr oft die Folge einer sozialen Notlage: Viele meiner Mandanten sind „suchtmittelabhängig“, haben also ein Problem mit Alkohol oder – häufiger – mit illegalen Drogen. Diesen Menschen zu sagen, dass ihre Beschaffungskriminalität andere schädigt und von der Gesellschaft, der Jurist sagt gerne: von der Allgemeinheit nicht geduldet wird, hieße, Wasser in den Rhein zu schütten: das wissen sie auch selbst. Und sie haben in den letzten Jahren, z.T. auch während ihres ganzen Lebens die Erfahrung gemacht, dass sie mit ihren Problemen alleine sind, weil sie aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind. Wenn ich ihnen helfen will, müssen sie erst einmal merken, dass sie für mich nicht nur ein Fall sind, sondern dass ich sie trotz ihrer Vorgeschichte als Menschen wahrnehme und schätze. Das erreiche ich nicht mit Moralpredigten, sondern indem ich mich auf ihre Situation einlasse, den Grund ihrer Probleme und die Möglichkeiten einer Lösung. Und das gilt nicht nur für Straftäter, sondern z.B. auch für den Mandanten, der seit Jahren darum kämpft, unbegleiteten Umgang mit seinem Sohn zu bekommen, also ohne die Aufsicht durch den Kinderschutzbund oder das Jugendamt. Er hat eine – sagen wir – etwas schwierige Persönlichkeit, die ihm Einsicht in eigene Fehler erschwert und dazu verleitet, stets die Schuld bei anderen zu suchen. Da aber auch das Kind schwierig ist, befürchten die Ämter – wie die Mutter – eine Eskalation bei den Umgängen, und fordern ihn deshalb auf, Vertrauen durch das Zulassen begleiteter Umgänge aufzubauen. Wenn ich ihm nun auch Vorhaltungen machen würde, brächte das nichts, also mache ich mich mit ihm auf den Weg nach Emmaus und erkläre ihm immer wieder, was Sache ist. Wir sind derzeit auf dem Weg, aber wir sind noch nicht in Emmaus angekommen.

Angekommen sind aber die beiden Jünger und Jesus. Als sie Emmaus erreichen, tut Jesus so, als wolle er weitergehen, was die Jünger zu dem Ausspruch verleitet, den wir als Abendlied kennen: „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.“ (Lk 24, 29) Im Zusammenhang, den wir gerade gehört haben, ist das eigentlich nicht das, was in diesem Lied zum Ausdruck kommt: Es ist keine Bitte um Schutz, sondern das Angebot von Schutz und Hilfe für den Wanderer, der so tut, als wolle er weitergehen: „Bleibe bei uns in der warmen Gaststube! Geh nicht hinaus in die kalte dunkle Nacht, in der Dir Gefahr von herumstreunenden Vagabunden und wilden Tieren droht. Sei nicht unvernünftig, sondern höre auf uns: Über dies Situation wissen wir Bescheid.“ Die Jünger haben auf dem Weg, den sie verzweifelt, aber auf Jesus hörend zurückgelegt haben, zu alten Stärken zurückgefunden oder neue Kompetenzen und Fähigkeiten neu gelernt. Oder in den Worten des Liedes, das wir vorhin gesungen haben: Ihre engen Grenzen wurden in Stärke gewandelt. Wenn ich dieses Zitat höre, denke ich immer wieder an einen Mandanten, den ich seit Jahren in seiner Drogensucht begleite und den ich schon durch ungezählte Verfahren geschleust habe: Seit ich ihn kenne, kämpft er gegen diese Sucht, bemüht sich um Therapien, kümmert sich um neuen Wohnraum, wenn er wieder einmal aus einer Wohnung geflogen ist, weil er die Miete nicht bezahlen konnte: Er ist für mich ein Vorbild für Willensstärke und als Steh-auf-Männchen geworden, und ich glaube, dass es mit zu seiner Stabilisierung beigetragen hat, als ich ihm genau dies gesagt habe: er hat gemerkt, dass er nicht nur der hoffnungslose Junkie ist, sondern ein vollwertiger Mensch, der nicht nur aus seiner Sucht besteht.

Der Samueltext enthält außerdem noch eine Aufforderung an mich zur Geduld in meinem Beruf: Wenn Gott Samuel drei- bzw. viermal anrufen musste, um eine brauchbare Antwort zu erhalten, wie kann ich dann erwarten, dass meine Mandanten Ihre Probleme in den Griff bekommen und ihr Leben ändern, wenn ich Ihnen einmal gesagt habe, was sie tun müssen? Nicht immer führt der Weg, den wir – mein Mandant und ich – gemeinsam gehen müssen, nur bis Emmaus, sondern manchmal auch ein wenig darüber hinaus.